Du Opfer!

Ich habe kürzlich einen inspirierenden Artikel über den Zustand unserer heutigen Gesellschaft gelesen.

Matthias Lohre, Autor und Journalist, hat in seinem Buch „Das Opfer ist der neue Held“ beschrieben, wie diese Haltung zu bewerten ist und sich die Gesellschaft seiner Meinung nach zu einer Opfer-Gesellschaft entwickelt hat. (1)

Ein Opfer der Nazi-Herrschaft hätte sich nie als Opfer bezeichnen lassen, sondern sah sich als Gegner des Regimes, weil alles andere als Schande empfunden worden wäre. Was früher undenkbar war, scheint heute gesellschaftsfähig.  

Heute stellen sich Politiker gerne als Opfer dar. Trump, der sich als Kämpfer für sein Volk sieht und sich Verschwörungen konfrontiert sieht. „Der Präsident hier ist das Opfer“ twitterte er bereits 2017. Erdogan, der westliche Verschwörungen für die wirtschaftlichen Probleme seines Landes verantwortlich macht. Ein Heinz-Christian Strache aus Österreich, der letztes Jahr seinen Rücktritt erklärte, wies Vorwürfe zurück, weil er in einer intimen Atmosphäre unter Alkoholeinfluss zu Zusagen für lukrative Staatsaufträge überredet werden sollte. 

In Deutschland beschwören AfD-Politiker die „Selbstzerstörung unseres Staates und Volkes“. Damit versuchen sie sich als Helden für das Volk darzustellen. Rechtspopulisten versuchen, dass sich ihre Wähler selbst mit der Opferrolle identifizieren. 

Beachtlich dabei ist, dass diese selbsternannten Opfer enormen Zuspruch ernten und Sympathien unter ihren Anhängern gewinnen.

Auch linke Verfechter einer sogenannten Identitätspolitik teilen eine düstere Weltsicht, so Lohre.

Alle Gruppierungen, egal aus welchem Lager, vermuten um sich herum abgehobene Eliten, die rechtschaffene Bürger wie sie selbst erniedrigen. Ihr eigenes subjektives Empfinden genügt. Jeder Einwand, jede Argumentation dagegen, bestätigt sie. So wird die eigene Auserwähltheit gefestigt.

Wir befinden uns in einem „epochalen Umbruch“. Das selbstbestimmte Individuum weicht einem Opfer, welches ständig Mitgefühl und Aufmerksamkeit einfordert. 

Der Literaturwissenschaftler Daniele Giglioli schreibt dazu: „Wir sind stolz darauf, etwas erlitten zu haben. Wunden, tatsächliche genauso wie symbolische, sind der Nachweis für Glaubwürdigkeit.“  In seinem Buch „die Opferfalle“ schreibt er: „Auf das Gefühl, Opfer dunkler Mächte zu sein, darauf können wir uns einigen. Weil es uns nichts anderes abverlangt als das Gefühl, an nichts schuld zu sein.“

Warum sehen wir uns wohl gerne als Opfer? 

Welche Zutaten braucht es? 

Ist es nicht die Unfähigkeit, uns mit unseren wirklichen Ängsten auseinanderzusetzen?

Inspiriert hat mich dieser Artikel zu weiteren Gedanken.

Gab es nicht schon immer die Menschen, die sich in der Opferrolle ganz wohl fühlten. Eine schwere Erkrankung, die man erleidet oder durchgestanden hat. Die falschen Freunde.  Existenzvernichtung durch eine Finanzkrise. Mobbing. Die Frau, die immer nur an die falschen Männer geraten ist, der Mann, der immer nur Frauen kennengelernt hat, die ihn ausnutzten. Der Ehemann, der sich wegen seiner kranken Frau nicht von ihr trennen kann, weil er eine moralische Verpflichtung hat. Der Beruf, der einen so sehr fordert, dass man sich nicht mehr um die Familie und seine sozialen Kontakte kümmert. 

Es ist einfach sich in die Opferrolle zu begeben und heute wohl durchaus gesellschaftsfähig. Man bekommt Mitgefühl, man kann sein Selbstwertgefühl durch gesteigerte Aufmerksamkeit steigern.

Eine ehrliche Selbstreflexion würde helfen. Anstrengend und möglicherweise schmerzhaft,   manchmal braucht man auch professionelle Hilfe. Die wahren Gründe liegen meist in unserem tiefsten Innern. Damit muss man sich auseinandersetzen.

Oftmals wird nicht einmal im Ansatz darüber nachgedacht, warum manches so gekommen ist, wie es passiert ist. 

In dieser Corona-Krise, für die niemand was kann, sehen sich auch viele in dieser Opferrolle. Eine wunderbare Ausrede. 

Jeder von uns hat sich bestimmt schon als Opfer gefühlt. Haben wir uns in dieser Rolle wohlgefühlt? Ich nie und es hat nicht geholfen. 

Der Mensch strebt nach Gemeinschaft. Sich in der jetzigen Situation aber in der Opferrolle zu sehen ist fatal. Das hat auch was mit der Self Fullfilling Prophecy zu tun. 

Viel mehr sollte man sich als Teil einer, vielleicht auch neuen,  Solidargemeinschaft sehen. Eine Gemeinschaft, die füreinander da ist, den Schwachen hilft und in der jeder seinen Teil leistet um Leid zu mindern. Vor allem aber sollte jeder nach vorne schauen und sich nicht auf Hilfe von außerhalb verlassen.

Eine Chance? 

(1) Psychologie Heute, Ausgabe 05/2020

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18 Gedanken zu „Du Opfer!

            1. Dazu braucht es aber Zeit und einige schlechte Erfahrung, so ist es mir schon ergangen… vor allem denkt man dann schon, dass man selbst Fehler gemacht hat

          1. Das ist der Punkt. Es funktioniert , weil im privaten Bereich das schlechte Gewissen des Gegenübers kultiviert wird, das fortlaufend versucht, etwas wieder gutzumachen und deshalb gibt es für die Täter keinen Grund etwas zu ändern. Meine Mutter hat das sowohl bei meinem Vater praktiziert als auch bei mir – allerdings mit weniger dauerhaftem Erfolg.
            Auf der politischen Ebene rührt der Erfolg eher von der realen sozialen Ungerechtigkeit her. Hier stellen sich die Manipulatoren rhetorisch auf die gleiche Stufe, indem sie vorgeben, ebenso schlecht behandelt und diskriminiert zu werden. Und wie wir sehen können, funktioniert auch das wunderbar.
            In beiden Fällen kommt es zu einer Art der Hörigkeit, einer Unfähigkeit, sich abzugrenzen, sodass ein bestimmtes Ziel angepeilt werden kann.

            1. So ist es wohl. Heißt dann aber auch, dass man den Anfängen wehren muss. Ähnlich wie beim Umgang mit Narzissten…

  1. Eigentlich gehts ja um Projektionen. Das „angebliche“ Opfer projiziert die Verantwortung für seine Umstände auf jmd anderen. Einerseits ist das unglaublich einfach. Andererseits bewahrt derjenige dadurch vor anderen und oft auch vor sich selbst sein Gesicht. Wenn er sich also nicht konform zu seinen eigenen Grundsätzen oder Wertvorstellungen verhalten hat, wird die Erklärung im Aussen gesucht, statt eine gründliche Selbstreflexion zu betreiben. Dazu kommt noch, dass die meisten Menschen viel lieber die Verantwortung für andere über nehmen, als sich in Selbstverantwortung zu üben. Denn hier kann man sich – wenns eng wird, rausziehen, ist ja nicht die eigene Baustelle, man wollte doch nur helfen und nett sein.
    Doch ich sehe das Problem nicht nur im einzelnen Individuum, auch die gesellschaftlichen Werte tragen dazu bei. Fehler werden nicht als Übung definiert, durch die man sich weiter entwickelt und lernt. Fehler sind per se schlecht und dafür gibts tadelnde Worte von Vorgesetzten, Lehrern oder Vorwürfe von Nachbarn, Partner etc. Wer solcherart angegriffen wird, versucht sich zu rechtfertigen – und die Schuld auf andere oder widrige Umstände zu schieben.
    Menschen, die unter Opferitis leiden – auf die zeige ich extrem allergische Reaktionen. Viele davon haben zudem ja auch noch ein hohes Aufmerksamkeitsbedürfnis.

    Um so wichtiger, wenn man auf solche Personen trifft, sich seiner eigenen Werte bewusst zu sein. Leider gelte ich deshalb hier und dort als herzlos. Eine Bekannte erzählte vor einiger Zeit (in grosser Runde, für die größtmögliche Aufmerksamkeit), dass sie Ihren Ex-Mann wieder bei sich einziehen lassen hätte, und das wäre ja auch emotional alles gar nicht einfach für sie. Aber sie kann ihn ja nicht „auf der Strasse“ lassen – ihre Worte. Nicht nur, dass sie selbst sich als altruistisch feiern lassen wollte, verständnisvolles Mitgefühl wegen ihres unglaublich selbstlosen Opfers schwappte ihr entgegen. Nur ich entgegnete, warum sie ihn denn nicht draussen gelassen hätte, einen Kumpel mit Couch gäbe es für ihn bestimmt und ihr würde es doch dann besser gehen?! – empörtes Entsetzen nicht nur vom Opfer schlug mir entgegen.

    Sooo und jetzt zu den dunklen Mächten *grins*. Diese unsere Welt ist polar, in jedem von uns gibt es gute und schlechte Seiten und wir alle denken, dass erstere über wiegen. Macht macht aber etwas mit Menschen, nachgewiesenermaßen. Das unter Kontrolle zu behalten, ist sicher nicht jedermann/fraus Sache. Und wenn ich mir im Moment Herrn Spahn anschaue, wirklich genau hingucke – wohlgemerkt, der Mann, der momentan die größte Macht in unserem Staat in sich vereint – dann traue ich ihm nicht zu, damit verantwortungsvoll umgehen zu können. Ich vertraue diesem Gesicht nicht. Möge also die Macht mit UNS sein (die helle leuchtende 😉 ), oder? Oder wir nehmen solidarisch das Grundgesetz wieder alle ernst und kämpfen dafür. Na ich glaub, ich bin schon in Fantasien oder im Traumland 😀

    Grüsse zur Nacht

    1. Das mit der Projektion ist nachvollziehbar und leider weit verbreitet. Sich auf die eigenen Werte zu besinnen, scheint für viele so umständlich wie unangenehm. Komfortzone sieht anders aus und Selbstreflexion kann weh tun.
      Sicher ist das Ganze ein gesellschaftliches Problem, da gebe ich Dir recht.
      Die helle Macht, die intelligente und besonnene möge mit uns sein!
      Das mit dem Grundgesetz, ein hehres Ziel und Wunsch zugleich.
      Liebe Grüsse zur Nacht zurück

  2. Ein sehr interessanter Beitrag, lieber Thomas und vor allem auch der letzte Absatz sollte in uns wirken!
    Kenne Auch so manche die sich aus unterschiedlichen Gründen immer wieder mal als „Opfer“ darstellen und manchmal erreichen sie damit sogar ihr Ziel… Leider.
    Liebe Grüße von Hanne und bleib gesund 🍀🌞🌷

    1. Schön, freut mich, wenn Dir der Beitrag gefällt.
      Opfer-sein scheint in Mode zu sein, ich nehme das Heft lieber in die Hand und wenn ich auf die Nase falle, dann ist das halt so, dann habe ich wenigstens was gelernt.

      Gesundbleiben! Liebe Grüsse 🍀🌺🐝🐞

  3. Schöner Beitrag, ich glaube es ist der einfache Weg, sich als Opfer zu sehen, ermöglicht es einem die Schuld von sich zu weisen.

    Weil wenn man Opfer ist, gibt es doch auch Täter, die man für die Situation verantwortlich machen kann…

    Mir kommt es so vor, als würde Selbstreflexion heutzutage immer weniger stattfinden.

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